Digitale Sexuelle Gewalt Vertiefung

Digitale Sexuelle Gewalt

VERTIEFUNG

Digitales sexuelles Handeln und digitale Beziehungskompetenz

Digitale Medien erweitern den sexuellen Handlungsspielraum. Diesen können Menschen für sich nutzen oder auch nicht.

Findet die digitale sexuelle Handlung auf Augenhöhe und im gegenseitigen Einverständnis statt, ist alles in Ordnung (Sexting). Schwierig wird es, wenn Druck, Drohungen und (andere) Formen der Gewalt ins Spiel kommen, beispielsweise wenn intime Bilder oder Filme des Partners oder der Partnerin unerlaubt an andere weitergeleitet werden (Sharegewaltigung). 

Genau da liegt das Risiko digitaler sexueller Handlungen, nicht in ungewollten Schwangerschaften oder der Übertragung von Krankheiten, sondern in der fotografischen oder filmischen Dokumentation eines intimen Moments. Wir gehen das Risiko ein, dass diese intimen Momente an Dritte gelangen – ohne unsere Zustimmung oder ohne unser Wissen.

Es stellt sich also die grundsätzliche Frage, wie digitale Beziehungen beschaffen sind, wenn von Anfang an die Gefahr besteht, bloßgestellt zu werden, indem Bilder die Runde machen? Oder einfacher: Wie sehr vertraue ich digitaler Intimität?

Sprechen wir über Sexting – zusammengesetzt aus den englischen Wörtern "sex" und "texting"  – kommt es schnell zu Missverständnissen. Anstatt wie über Sex aufzuklären, wird das Verhalten als solches problematisiert. Kommt es dann zu ungewollter Weiterverbreitung intimer Bilder, findet häufig fast automatisch eine Schuldumkehr statt. Das Opfer, also die Person, deren Bild nun ungewollt weiterverbreitet wird — so der Vorwurf –, ist doch eigentlich selbst schuld.

„Das weiß man heute doch nun wirklich besser.“ Auch die Aufklärung richtet sich immer an potenzielle Opfer und nimmt meistens die Haltung ein, Sexting sei grundsätzlich schädlich. Das ist in etwa so, als sagten wir: „Knutschen ist gefährlich“ und „Sex sollte man am besten nicht haben“. Kaum eine Prävention richtet sich an diejenigen, die intime Bilder verbreiten und damit großen Schmerz zufügen, also die Verursacher*innen, die Täter*innen.

Wer intime Bilder von anderen verbreitet, übt sexuelle Gewalt aus. Deshalb nennen wir die Verbreitung intimer Bilder „Sharegewaltigung“. Diese kann schwere psychische Folgen haben. Verantwortung dafür tragen immer die, die das Bild weiterleiten oder veröffentlichen, nicht das Opfer! Diese wichtige Tatsache sollte dringend in der Prävention, aber auch bei der Intervention beachtet werden, also in vorbeugenden Maßnahmen und beim vermittelnden Eingreifen. 

Wir sollten uns über Risiken digitaler Sexualität informieren und uns darüber im Klaren sein, wie wir gut und achtsam in einer sexuellen Beziehung mit uns selbst und unserem Gegenüber umgehen. Wir sollten uns bewusst machen, was geschieht, wenn ich meinem Gegenüber Gewalt antue – nicht nur, was geschieht, wenn mir Gewalt angetan wird. Dieses Wissen und Bewusstsein nennen wir digitale Beziehungskompetenz. Dieses Thema darf in keiner Aufklärungs- und Präventionseinheit mehr fehlen.

Gefährdungen durch digitale Medien im Alltag von Kindern und Jugendlichen

Jugendliche setzen sich wegen ihres Bedürfnisses nach Anerkennung, wegen ihrer Neugier und ihrem Kommunikationsverhalten digital häufig ungewollt Risiken aus, die sie überhaupt nicht erkennen können. Beim Erkunden der digitalen Welt werden sie allerdings viel zu häufig allein gelassen.

Nach wie vor scheuen sich die Erwachsenen, digitale Spiele auszuprobieren oder gar „Let’s Plays“ zu schauen, um zu sehen, wie das Spiel funktioniert. „Let’s Plays“ sind Videos, aufgenommen von Menschen, die sich beim Computerspielen filmen. Über ein „Let’s Play“ erhält der/die Zuschauer*in einen ziemlich ungefilterten Eindruck vom Spiel. Von „TikTok“ – ein soziales Netzwerk aus China – haben viele noch nie gehört und auch „Fortnite“ – ein extrem beliebtes und kostenloses Battle-Royale-Videospiel von Epic Games – ist vielen nicht bekannt. Aber das sind die Orte, die potenziell die gefährlichsten digitalen Spielplätze sind, die es derzeit gibt.

Digitale Medien führen zu einer Vielzahl von Grenzverschiebungen. Plattformen wie WhatsApp, Snapchat, Instagram oder TikTok laden zur Selbstdarstellung ein, sie verordnen geradezu den digitalen Exhibitionismus

In der „Generation Selfie“ posten laut einer Studie (2018) im Auftrag des IKW 85% der Jugendlichen Selfies (39% wöchentlich, 26% täglich, 14% mehrfach täglich). Eine treibende Kraft ist die Suche nach Anerkennung. 40 % der britischen Jugendlichen zwischen 12 und 20 Jahren gaben in einer Untersuchung an, sich wie ein Niemand zu fühlen, wenn sie keine Likes für ein Selfie bekommen (Ditch the Label, 2017). Gleichzeitig gaben 70 % der befragten Jugendlichen zu, dass sie sich selbst online schon anderen gegenüber erniedrigend und verächtlich verhalten hätten. Wer ein Selfie von sich postet, macht es grenzverletzenden Menschen leicht, sich so zu äußern.

Geht es um das Digitale, verwechseln wir allzu gern Anwendungskompetenz mit Lebenskompetenz. Wir vergessen, dass Jugendliche schon allein wegen ihrer Hirnentwicklung nicht in der Lage sein können, ihr Handeln richtig zu reflektieren und zu verstehen. Der präfrontale Cortex, also die Hirnregion, die für eine situationsangemessene Handlungssteuerung und die Regulation emotionaler Prozesse zuständig ist, ist erst mit Anfang 20 voll ausgebildet. 

Die Veränderung der Beziehungsgestaltung durch das Digitale verändert auch die Peer-Gewalt, also die Gewalt unter Gleichaltrigen. Der Anteil derjenigen, die sich aktiv über digitale Wege übergriffig und gewalttätig verhalten, steigt – auch bei Kindern und Jugendlichen. Die digitale Verbreitung bösartiger, beleidigender oder intimer Inhalte entwickelt eine heftige Eigendynamik, der wir unbedingt entgegentreten müssen, um Kinder zu schützen und Täter*innen-Karrieren aufzuhalten.

Cybergrooming

Über digitale Medien bekommen Täter*innen direkten, ungestörten Kontakt zu ihren Opfern - zu jeder Zeit. Nie war das soziale Feld so groß wie heute im Zeitalter sozialer Netzwerke, Online-Spiele und Messenger-Dienste. Nie hatten es Täter*innen leichter, in unmittelbaren und vor allem ungestörten Kontakt mit anderen zu kommen. Gleichzeitig ermöglichen ihnen Profile auf Sozialen Netzwerken oder in Messenger-Gruppen viele Einblicke, die sie zu ihrem Vorteil nutzen. Der Anteil jugendlicher Täter*innen stieg im Jahr 2021 in der polizeilichen Kriminalstatistik auf 30 %. Eine große Rolle spielte dabei digitale sexualisierte Gewalt.

Täter*innen nutzen häufig den direkten digitalen Draht zu ihren Opfern. Sie suchen digital nach Opfern und oder nutzen die digitalen Medien, um einen bestehenden Kontakt zu intensivieren. Sie bauen Vertrauen auf und erpressen. Nicht selten verbreiten sie intime Fotos, Filme oder sogar Missbrauchsdarstellungen. Dabei wird das Smartphone zum ultimativen Tatmittel. Mit dem Smartphone ist das Opfer für Täter*innen immer, direkt und vollkommen unbeobachtet erreichbar.

Ausblick 

Es ist wichtig zu begreifen, welchen Einfluss die digitale Dynamik auf unser Leben und unsere Beziehungen hat. Wir sollten uns fragen: Wie beeinflussen digitale Medien die Entwicklung und Wahrnehmung des Selbstbewusstseins? Was bedeutet intimes digitales Handeln, wenn es schon schwerfällt, analoge Gesprächskultur in die digitale WhatsApp-Gruppe zu übertragen?

Wie kann eine gute, gesunde analog-digitale Beziehungsgestaltung funktionieren? Es lohnt sich sehr, diese Fragen mit Jugendlichen zu besprechen. Gleichzeitig müssen diese Fragen im Schutzkonzept jeder Institution, die mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, behandelt werden. Und auch die Handlungsleitfäden zum Umgang mit Fällen sexualisierter Gewalt sollten auf diese Fragen eingehen.

Begleiten wir Jugendliche in Not, müssen wir selbstverständlich auch ihre digitalen Lebensbedingungen miteinbeziehen, um ihnen bei der Bewältigung der verletzenden Ereignisse gut zu helfen. Wir sollten begreifen, was zum Beispiel die digitale Verbreitung intimer Bilder oder sogar die Darstellung von Missbrauch für die Betroffenen bedeutet. Und wir müssen lernen, sie gut in der Bewältigung dieser schmerzlichen Realität zu unterstützen.

Weiterführendes Interview: https://we-like.com/sexuelle-grenzverletzungen-online/