Digitale Sexuelle Gewalt im Fokus

Digitale sexuelle Gewalt

IM FOKUS

 

Hintergrund

Die folgenden Ausführungen basieren auf der Idee, dass wir unser Selbst digital ausdehnen, unsere Körperlichkeit durch ein digitales Endgerät also quasi erweitern. Demnach handelt es sich beim Sexting genauso um körperliche Kommunikation wie beim Küssen. Das Smartphone ist nicht Mittel zum Kommunikationszweck, sondern ein Teil unseres Selbst.

Ein Zwang zum Küssen oder zum Versenden von Nacktbildern ist keine negative Kommunikation und auch keine „falsche“ Sexualität, sondern ganz klar sexualisierter Machtmissbrauch. Die Sichtung der bestehenden Literatur macht deutlich, dass die Definitionen für die Bereiche digitale Bildung/Medienbildung, Sexualpädagogik und sexualisierte Gewalt passen müssen.

Die Dimensionen sexualisierter Gewalt im digitalen Raum

Innerhalb dieser 3 Kategorien (unabsichtliche Grenzverletzung, sexualisierter Übergriff, sexualisierte Gewalt) kommen nun digitale Komponenten hinzu.

Ein Beispiel: Ein 17-jähriges Mädchen hat sich gerade von ihrem Freund verabschiedet, denkt noch an ihn, als sie in der leeren Bahn sitzt.

Spontan sendet sie ihm ein Selfie mit entblößter Brust und Kussmund, um den eben erlebten Moment der Intimität weiterzuführen. Der Junge allerdings empfindet das Nacktbild als unangenehm. Seine Reaktion bemerkt das Mädchen aber nur dann, wenn er sie aktiv kommuniziert – ihr zum Beispiel eine Voicemail schickt, in der er kurz sagt: „Schatz, du bist sehr schön! Aber Nacktbilder schicken mag ich nicht.“ Das Mädchen entschuldigt sich daraufhin per Text-Nachricht: „OMG sorry!!!!!! *peinlich* *schäm* wollte dich nicht bedrängen. Ich wollte nur sagen: Es war so toll mit dir. Bis morgen.“

Hier hat eine unabsichtliche Grenzverletzung stattgefunden, die das Mädchen in einem analogen Kontakt vielleicht gespürt und angesprochen hätte. Das Nähe-Distanz-Gleichgewicht erfordert digital einiges mehr an Reflexions- und Kommunikationsfähigkeit als analog bei einer zu engen Umarmung. 

Absichtliche Grenzverletzung

Eine andere Situation ist es, wenn das Mädchen aus dem Beispiel ein Bild schickt, obwohl ihr Freund bei ihrem letzten Treffen gesagt hat, dass er keine intimen Bilder von ihr bekommen möchte. Er fühlt sich davon Druck gesetzt. Es ist ihm unangenehm und irgendwie peinlich. Sie aber genießt das Gefühl und die Macht, dass sie ihn mit ihrem Nacktbild bedrängen kann, und sendet das Bild trotzdem. Dieser Schritt fällt ihr leicht, weil sie nicht seiner direkten Reaktion ausgesetzt ist. So kann sie sich sein Unwohlsein in ihrer Fantasie ausmalen und muss nicht mit ihm fühlen. Hier hat ein sexueller Übergriff stattgefunden. 

In Beziehungen muss heute das Nähe-Distanz-Verhältnis analog und digital verhandelt werden. Was analog angenehm ist, zum Beispiel das gegenseitige Ansehen des nackten Körpers, muss sich digital nicht genauso anfühlen. Das Aushandeln von Wünschen und Bedürfnissen in der Sexualität ist analog schon eine Herausforderung. Wie das Beispiel zeigt, erschwert die fehlende nonverbale Kommunikation im Digitalen diesen Prozess, vor allem solange wir noch wenig Erfahrung damit haben. 

 

Digitale Verbreitung

Die Situation im Beispiel kann sich noch ganz anders entwickeln.

Das Mädchen aus dem Beispiel schickt ihrem Freund das intime Bild. Der ist angeekelt, sagt ihr aber nichts, sondern sendet das Nacktbild sofort weiter an seinen Freund: „Guck mal, meine Olle. Ist die peinlich, Alter! Denkt, sie ist ein Model, und schickt mir sowas.“ Das intime Foto, entstanden aus einem Gefühl der analogen Zweisamkeit und Intimität, landet ohne Wissen oder Zustimmung des Mädchens bei einer dritten Person.

Jetzt kann es innerhalb kürzester Zeit, zum Beispiel über Messenger-Dienste, in ihrem gesamten Freund*innenkreis verbreitet und an all ihre Mitschüler*innen versendet werden. Von einer Sekunde auf die nächste wissen diese Empfänger*innen plötzlich, wie sie nackt aussieht. Das Bild – meist verbunden mit ihrem Namen – ist im digitalen Raum zugänglich für alle: Lehrer*rinnen, spätere Arbeitgeber*innen usw. Dieses Weiterleiten bedeutet eine massive Gewalt gegen das betroffene Mädchen, auch wenn der Junge sich ebenfalls bedrängt gefühlt hat.

In diesem Fall sind die Grenzen von beiden überschritten worden. Die Konsequenzen für das Mädchen sind aber wahrscheinlich viel schwerwiegender und langanhaltender. 

 

Grooming und Sharegewaltigung

Eine letzte Variante des Beispiels ist diese: Der Junge fordert vom Mädchen beim Abschied ein Nacktbild aus der Bahn als Beweis ihres Mutes und ihrer Zuneigung. Er droht mit Liebesentzug, falls sie ihm nicht innerhalb der nächsten 30 Minuten ein Bild schickt.

Das Mädchen fühlt sich unwohl, ist aber verliebt und will den Jungen nicht verlieren. Sie ist aufgeregt, muss schnell entscheiden und sendet das Bild. In diesem Fall geschieht der Übergriff bereits mit der Forderung. Der Junge fühlt sich stark und wohl in der dominanten, fordernden Rolle und macht sich über die Gefühle des Mädchens keine Gedanken. 

Andere Formen von sexualisierter Cybergewalt sind unter anderem die Begegnung mit (harter) Pornografie, die gezielte Konfrontation mit sexuellen Inhalten, Cybergrooming (mit dem Ziel sexuellen Missbrauchs analog/digital), die Erstellung von Missbrauchsabbildungen, die Erpressung von und mit selbsterstellten Bildern (Sextortion) oder Livestream-Missbrauch.

 
(aus: „Empirische Untersuchung zur Versorgung von Mädchen und Jungen, deren Missbrauchsabbildungen (Kinderpornografie) bzw. Sextingabbildungen digital verbreitet werden und notwendige Lehren für eine gute Prävention an Schulen (2010-2015“), S. 15ff)