Die Rolle der Fachkraft Vertiefung

Die Rolle der Fachkraft

VERTIEFUNG

Der Schutzauftrag

Hauptamtliche Fachkräfte haben einen gesetzlichen Schutzauftrag (§ 8a SGB VIII). Das bedeutet, im besten Fall verhindern Sie sexuelle Gewalt. In jedem Fall schreiten Sie ein, wenn Sie mit einem Fall oder einer Vermutung konfrontiert werden. Das müssen und sollen Sie nicht allein tun. Dabei hilft immer ein Schutz- oder besser noch Fürsorgekonzept und ein Handlungsleitfaden. Selbstverständlich sollten auch ehrenamtliche Fachkräfte und freie Vereine ein solches Schutz- oder Fürsorgekonzept haben.

 

Eine komplizierte Dynamik

Sexuelle Gewalt durch Jugendliche an Jugendlichen bringt immer eine sehr komplizierte Dynamik mit sich. Als Fachkraft, egal ob haupt- oder ehrenamtlich, ist es Ihre Aufgabe, dieser komplizierten Dynamik zu begegnen.

Sie haben mit den Jugendlichen zu tun, die sexuelle Gewalt erleiden (Opfer und Betroffene), die sexuelle Gewalt ausüben (Täter*innen) und die sexuelle Gewalt beobachten oder anvertraut bekommen (Bystander) und nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen.

Gerade in der Jugend, wenn man anfängt seine Sexualität zu entwickeln und intime Beziehungen zu haben, wird es oft kompliziert. Dann geht es darum, Grenzen auszutesten und herauszufinden, was man mag und was nicht. Und traut man sich auch zu sagen, was man mag und was nicht?

Wo sind die Grenzen?

Im Hinblick auf unser Thema stellt sich die Frage: Wann wird eine sexuelle intime Handlung grenzwertig und wann benutzt jemand eine sexuelle Handlung, um Macht auszuüben? Das ist nicht leicht zu beantworten und doch wichtig, immer im Hinterkopf zu behalten. 

Sexuelle Gewalt darf nie pädagogisiert werden! Das bedeutet, wenn Sie als Fachkraft mit sexuellen Grenzüberschreitungen, Übergriffen oder Gewalthandlungen konfrontiert sind, handeln Sie klar und eindeutig. Verantwortlich für die Tat ist der Täter oder die Täterin, nicht der/die betroffene Jugendliche! 

Das ist nicht immer leicht. Meistens kennen Sie alle beteiligten Jugendlichen, manche besonders gut, andere vielleicht weniger gut. Dennoch stehen Sie mit allen in Verbindung. Und nicht nur das. In der Regel hatten oder haben Sie auch mit den Eltern oder Erziehungsberechtigten dieser Jugendlichen zu tun. Dadurch wird Ihre Aufgabe gleich noch einmal komplizierter. 

Gerade deshalb ist es wichtig zu wissen, Sie müssen und sollen das nicht allein regeln oder gar aufklären. Wie sagt man? Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen. Wie wahr! Und das heißt, es braucht das Team, Kollegium, den Verein, um Jugendliche zu schützen und sexueller Gewalt durch Gleichaltrige entgegenzutreten.

Auf die Haltung kommt es an! Damit sind Sie immer auch ein Vorbild, an dem sich Jugendliche orientieren können.

Bei sexuellen Grenzüberschreitungen oder Gewalt gibt es nicht nur Opfer und Täter*innen. Oft beobachten Mitschüler*innen oder Freund*innen eine Situation, ohne einzugreifen. Oder sie werden sogar – bewusst oder vielleicht auch unbewusst – zu Mittäter*innen. Wer trägt eigentlich die Verantwortung?

Interview: Schuld – was ist das?

Eine Antwort darauf hat Regina Lichtenstein, Sozialpädagogin und Referentin für Fortbildungen von Innocence in Danger e.V.

Verantwortung für eine Tat kann nur übernehmen, wer sich seiner Schuld bewusst ist. Richtig?

RL: „Nein, das sehe ich nicht so. Sonst könnte sich ja jeder der Verantwortung entziehen.

Selbst wenn jemand andere Wertvorstellungen hat, unterliegt die Tat den gesetzlichen und gesellschaftlichen Vorgaben.“

Können auch Betroffene Schuld an einem sexuellen Übergriff haben?

RL: „Nein, natürlich nicht! Das passiert leider oft, dass die Schuld relativiert und dem Opfer Mitschuld gegeben wird. Mal ist der Rock zu kurz, der Ausschnitt zu tief oder das Verhalten zu provokant etc. Wir sprechen hierbei von Schuldumkehr. Die Verantwortung tragen ganz klar die Täter*innen. Niemand hat das Recht, die Grenzen anderer zu verletzen.“

Zwei Drittel aller Jugendlichen haben schon einmal sexuelle Gewalt beobachtet und nichts dagegen unternommen. Werden sie dadurch zu Mittäter*innen?

RL: „Bystander greifen häufig nicht ein, weil sie verunsichert sind. Sexuelle Gewalt ist für alle belastend, selbst als Beobachter*in. Doch schweigende Bystander sind auch Mittäter*innen. Schweigen kann als Zustimmung verstanden werden. Unsere Aufgabe als Fachkräfte ist es Jugendlichen zu helfen, eine klare Haltung gegen sexuelle Gewalt zu entwickeln. Eine klare Haltung kann Jugendlichen helfen, einzugreifen und Gewalt zu beenden. Wenn jemand aus Angst und Unsicherheit schweigt, rate ich dennoch dazu: Teile dich anderen mit und hole Hilfe.“

Was kann man tun, wenn man sexuelle Gewalt unter Jugendlichen beobachtet?

RL: „Wichtig ist, dieses komische Gefühl, das sich entwickelt, ernst zu nehmen. Tauschen Sie sich mit Kolleg*innen aus. Und dann? Einschreiten und nicht wegsehen! Die Tat benennen und das grenzverletzende Verhalten thematisieren. Dem Opfer Unterstützung und Hilfe anbieten bzw. eine Beratungsstelle involvieren. Sowohl Opfer als auch Täter*in brauchen fachgerechte Hilfe!“

Intervention

Intervention, also das vermittelnde Eingreifen, setzt Aufmerksamkeit und Achtsamkeit voraus. Eine Jugendliche ist plötzlich „irgendwie anders“. Ein Jugendlicher fehlt „irgendwie“ so oft. Es geht um dieses schwer zu definierende „irgendwie anders“, „irgendwie eigenartig“. Mit diesem „irgendwie“ beginnt die Phase, in der Sie als Fachkraft abwägen, wie Sie weiter vorgehen sollen. 

Vielleicht wendet sich ein*e Jugendliche*r an Sie und klagt über eine*n andere*n Jugendliche*n. Möglicherweise berichtet eine Mutter oder ein Vater von Verhaltensveränderungen und Stimmungsschwankungen. Unter Umständen beobachten Sie selbst ein Verhalten, das Sie sich nicht erklären können oder ein*e Kolleg*in fragt, was Sie denn von der/dem Jugendlichen XY halten. 

Mit Vermutungen umgehen 

Wenn Sie erstmals die Vermutung haben, ein junger Mensch aus Ihrer Gruppe könnte übergriffig werden oder andere Jugendliche missbrauchen, gerät die Welt ins Wanken. Sie werden unsicher. Sie schwanken zwischen dem Wunsch, das sofort zu beenden, und dem dringenden Bedürfnis, das alles zu vergessen, weil es so schwer auszuhalten ist und eigentlich nicht stimmen kann, oder? 

Was wenn die Vermutung falsch ist? Was wenn man im Team kein Gehör findet? Wie soll man mit dem möglicherweise betroffenen Jugendlichen umgehen? Wie mit dem/der mutmaßlich übergriffigen Jugendlichen? Wer spricht mit den Eltern dieser Jugendlichen? Was ist mit den anderen Jugendlichen? Wann sind Kolleg*innen oder Vorgesetzte einzuschalten? 

Alle diese drängenden Fragen müssen ernst genommen und in jedem Fall anhand des Handlungsleitfadens neu beantwortet werden – von Ihnen, Ihrem Team, Ihrer Leitung und der Institution in der Sie beschäftigt sind. Dabei hilft das Schutz- bzw. Fürsorgekonzept und das Wissen um den Schutzauftrag.